Erfahrungsbericht Ellard Van der Molen
Erfahrungsbericht Ellard Van der Molen
Erfahrungsbericht der alltäglichen Arbeit in einem namibischen Spital
Meine Reise nach Namibia führte mich zur Organisation Mudiro im Nordosten des Landes und ich war besonders daran interessiert zu erfahren, ob es Ähnlichkeiten zwischen dem Gesundheitssystem hier und dem im Nachbarland Sambia gibt, wo ich mehrere Jahre gelebt und gearbeitet habe. Während meines fünftägigen Aufenthalts hatte ich die Gelegenheit, die beiden Spitäler Andara und Nyangana genauer unter die Lupe zu nehmen und in der alltäglichen klinischen Arbeit zu erleben.
Positiv überrascht war ich von der Sauberkeit in den Krankenhausfluren, der direkten Umgebung des Spitals sowie den hygienischen Massnahmen in den Patientenzimmern. Aus andern Ländern in Afrika und Asien nahm ich andere Erfahrungen mit. Allerdings war ich von der Ruhe und Leerheit in den Fluren und Patientenzimmern erstaunt. Es wirkte fast ein wenig merkwürdig, da ich angesichts des dringenden Bedarfs an gesundheitlicher Versorgung in Namibia erwartet hätte, dass die stationären Abteilungen gut ausgelastet sind. Doch stattdessen schienen diese Bereiche fast leer zu sein, was Fragen über die Zugänglichkeit und den Umgang mit medizinischen Dienstleistungen aufwarf. Im Gegensatz dazu strömten täglich viele ambulante Patienten in die zwei Spitäler, was die Hauptlast der Arbeit in diesen Einrichtungen zu tragen scheint. Die hohe Frequenz an ambulanten Fällen legt nahe, dass die Bevölkerung eher auf die Behandlung akuter Symptombekämpfung aus ist, während viele stationäre Behandlungen möglicherweise aufgrund von Ressourcenmangel oder einem unterschiedlichen Zugang zur Gesundheitsversorgung nicht die nötige Aufmerksamkeit erhalten.
Während meiner Arbeit in den Krankenhäusern in Namibia stellte ich fest, dass die Physiotherapie aufgrund der geringen Anzahl stationärer Patienten hauptsächlich auf die ambulante Versorgung ausgerichtet ist. Durch verschiedene Gespräche mit dem medizinischen Personal und den Patientinnen und Patienten wurde schnell deutlich, dass Physiotherapie im dortigen Gesundheitssystem noch nicht als anerkannte Therapieform etabliert ist, die zur Verbesserung der Qualität des Gesundheitssystems beitragen kann.
Die Möglichkeiten, die Physiotherapie in den Spitälern und Outreach-Kliniken bieten könnte, sind erheblich. Es ist für mich unumstritten, dass eine gezielte Einbindung von Physiotherapeutinnen und -therapeuten in die Arbeit der ländlichen Krankenhäuser nicht nur den Patientinnen und Patienten zugutekommen würde, sondern auch einen wertvollen Beitrag zur Gesamtstruktur der medizinischen Versorgung leisten könnte.
Aktuell scheint die Physiotherapie in diesen Spitälern grösstenteils durch ehrenamtliche Beiträge europäischer Physiotherapeutinnen und -therapeuten eher im Rahmen der kurzfristigen „Symptombekämpfung“ zu funktionieren, als dass sie nachhaltig in die Gesundheitsversorgung integriert wäre. Solange es an einer soliden Basis für die Physiotherapie fehlt, wird es schwierig sein, substanzielle Fortschritte in der Rehabilitation und langfristigen Gesundheit der Patienten zu erzielen.
Um diese wertvolle und bedeutende Disziplin im namibischen klinischen Umfeld zu etablieren, ist es entscheidend, dass lokal ausgebildete Physiotherapeutinnen und -therapeuten auch in den kleineren ländlichen Krankenhäusern wie Andara und Nyangana eingesetzt werden. Langfristig sollte hierbei mit Unterstützung externer Physiotherapie-Expertinnen und -Experten ein fest verankertes und anerkanntes Fachgebiet in den Einrichtungen geschaffen werden.
Mein einzigartiger Physiotherapie-Standort in Namibia
Das Fahren auf den gut befahrbaren, unbefestigten Strassen Namibias ist ein beeindruckendes Erlebnis, das die Seele berührt. Die Landschaft, geprägt von extremer Trockenheit, erzählt ihre eigene, faszinierende Geschichte. Während wir über die Strassen gleiten, wirbelt der feine Staub auf und vermischt sich mit dem strahlend blauen Himmel. Hier und dort formen sich beeindruckende Wolkenformationen, die dem kargen Terrain ein Gefühl von Tiefe verleihen. Die warmen Sonnenstrahlen begleiten uns auf jedem Kilometer unserer Reise, während sich das Bild des endlosen Horizonts vor uns entfaltet.
Doch „die Sonne geniessen“ hat hier eine andere Bedeutung als in der Schweiz. In Namibia suchen die Menschen händeringend nach Schatten und genau dort, unter schattenspendenden Bäumen, versammeln sie sich oft. Dies ist auch in der Nähe der Gesundheitszentren der Fall, wo der Schatten der einzige Rückzugsort vor der intensiven Sonneneinstrahlung ist.
Als wir mit unserem Auto und der mobilen Klinik an unserem ersten Ziel ankommen, erwarten uns bereits Scharen von Menschen. Die Erwartung der Menschen sind spürbar. Die erste Klinik, die wir besuchen, ist klein und bescheiden. Gemeinsam mit unserem Team besprechen wir vor Ort, wie wir die Arbeit am besten organisieren können. Die Herausforderung, Qualität und Effizienz in einem so begrenzten Raum zu vereinen, ist gewaltig, aber die Motivation der Menschen gibt uns Kraft und Antrieb.
Die Begegnungen in dieser ungewohnten Umgebung sind bereichernd. Jeder Patient und jede Patientin bringt seine eigene Geschichte mit. Diese Momente, in denen wir nicht nur medizinische Hilfe anbieten, sondern auch menschliche Nähe und Verständnis teilen, sind unbezahlbar. Die Erfahrung, die Herausforderungen vor Ort zu meistern und die Verbindung zu den Menschen, die wir treffen, machen diese Reise zu einem unvergesslichen Abenteuer.
Als ich das kleine Gebäude sah, in dem die Medikamente lagerten, wurde schnell klar, dass der Arzt hier seine Konsultationen abhalten würde. Für mich als Physiotherapeut blieb allerdings nur meine kleine Physio-Kiste mit einem begrenzten Übungsmaterial.
Um dennoch effektiv arbeiten zu können, richtete ich mir einen Platz im Schatten hinter dem Gebäude ein. Und was für ein Platz das war! Mit einem fantastischen Blick auf die beeindruckende namibische Natur verwandelte sich dieser schlichte Ort in meine persönliche Physiotherapie-Station.
Die Ruhe der Umgebung, das sanfte Rauschen des Windes und die Weite der Landschaft schufen einen ganz besonderen Rahmen für meine Arbeit. Es war ein Moment, der mir die Flexibilität vor Augen führte, die notwendig ist, um sich an unerwartete Gegebenheiten anzupassen.
Oft braucht es nicht viel – nur einen ruhigen Ort und die Entschlossenheit, das Beste aus der Situation zu machen, um wertvolle Arbeit leisten zu können.
Diese Erfahrungen haben meinen Blick auf die Physiotherapie und deren Bedeutung im Kontext der Gesundheitsversorgung in abgelegenen Regionen geschärft. Es zeigt sich, dass Einfluss und Hilfe nicht unbedingt von grossen Ressourcen abhängen, sondern auch durch kreative Ansätze und die Nutzung der gegebenen Umstände möglich sind. So wurde mein kleiner Schattenplatz nicht nur zu einem Arbeitsort, sondern auch zu einem Raum, in dem Begegnungen stattfinden konnten.
Einblicke in die Kinderphysiotherapie in Namibia
Als spezialisierter Kinderphysiotherapeut war es mir besonders wichtig, während meines Aufenthalts Einblicke in die Integration von Kindern mit Behinderungen und ihren Familien in die Kultur und das Gesundheitssystem Namibias zu gewinnen.
Die zwei Wochen meines Aufenthalts waren kurz, aber sie ermöglichten mir wertvolle Eindrücke und Erfahrungen. Während meines Aufenthalts waren in den Krankenhäusern hauptsächlich unterernährte Kinder sowie solche mit Fieber und Husten aufgenommen. Kinder mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen waren sowohl stationär als auch ambulant nur selten anzutreffen. Es wurde schnell klar, dass ein Krankenhausbesuch mit verschiedenen Herausforderungen einhergeht. Die grossen Entfernungen, die eingeschränkten Transportmöglichkeiten und die finanziellen Belastungen stellen erhebliche Hürden dar. Diese Faktoren erschweren es vielen Familien, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Oft sind sie gezwungen, weite Reisen auf sich zu nehmen, um die benötigte medizinische Versorgung zu erhalten. Zusätzlich zeigte sich, dass die Bewältigung des Alltags für die betroffenen Familien eine enorme Herausforderung darstellt, da Unterstützung und Ressourcen oft nicht ausreichend vorhanden sind. Diese Erlebnisse haben mir vor Augen geführt, wie wichtig es ist, nicht nur physische Therapien anzubieten, sondern auch ein stärkeres Augenmerk auf die sozialen und kulturellen Aspekte der Gesundheitsversorgung zu legen.
Ein weiteres Problem, das mir während meines Aufenthalts in Namibia auffiel und das ich auch aus anderen Ländern kenne, ist das begrenzte Wissen des Fachpersonals über bestimmte Diagnosen, insbesondere bei Kindern mit Zerebralparese (CP). Dieses Defizit führt häufig zu unklaren Diagnosen und mangelnder Aufklärung, sodass viele Familien nicht verstehen, was mit ihrem Kind „los“ ist oder wie sie es bestmöglich unterstützen können.
Diese Erfahrungen haben mir einmal mehr vor Augen geführt, wie essentiell es ist, die Fachkompetenz des medizinischen Personals zu stärken. Eine bessere Ausbildung und regelmässige Fortbildungen sind notwendig, um das Wissen über spezifische Diagnosen zu erweitern.
Darüber hinaus ist es entscheidend, die Aufklärung der Familien zu verstärken. Eltern und Angehörige benötigen klare Informationen und konkrete Anleitungen, um effektive Unterstützung leisten zu können. Dies gelingt am besten, indem die Familien in ihrem Wohn- und Lebensumfeld besucht werden. Dadurch lässt sich die Gemeinschaft sensibilisieren und die Integration von Familien mit Kindern und Jugendlichen, die körperliche und/oder geistige Behinderungen haben, fördern. So kann ihnen im sozialen und Gesundheitssystem die bestmögliche Unterstützung zuteilwerden. Eine gezielte Aufklärung kann entscheidend dazu beitragen, das Verständnis für die Erkrankungen zu verbessern, was nicht nur den Betroffenen, sondern auch deren Familien eine höhere Lebensqualität und eine bessere Integration in die Gesellschaft ermöglicht.
Trotz der Herausforderungen, die ich während meiner Zeit in Namibia beobachten konnte, bleibt die Arbeit mit diesen Kindern für mich eine bereichernde und bedeutende Aufgabe. Jedes Kind hat das Potenzial, und es ist eine Herzensangelegenheit, ihnen und ihren Familien dabei zu helfen, die bestmögliche Unterstützung zu erhalten. Ich bin fest davon überzeugt, dass durch einen ganzheitlichen Ansatz, der sowohl die Fachkompetenz des Personals als auch die Aufklärung der Familien berücksichtigt, wir dazu beitragen können, die Lebensqualität der betroffenen Kinder erheblich zu verbessern.
Meine Zeit in Namibia hat mir verdeutlicht, dass es notwendig ist, innovative Ansätze zu entwickeln, die die Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen und ihren Familien besser berücksichtigen. Es ist mein Wunsch, dass durch verstärkte Zusammenarbeit und Sensibilisierung in der Gemeinschaft eine breitere Akzeptanz und Integration erreicht werden kann.
Ellard Van der Molen – Physiotherapie