Als Frau der grossen Sprünge im Projekt der kleinen Schritte
Zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: ein grosses Schweizer Kantonsspital, ausgestattet mit den neuesten Technologien, und das Kavango-Gebiet im Norden Namibias, wo die Ärmsten der Armen wohnen. Ein Ort, wo Frauen keinen Zugang zu elementaren gynäkologischen Untersuchungen und Beratungen haben. Dort setzt das Hilfs- und Ausbildungsprojekt Mudiro an. Seit 2019 darf ich als Gynäkologin bei Mudiro im Einsatz sein. Wir wollen mit der Ausbildung von Ärzten und Gesundheitspersonal vor Ort Gynäkologie und Geburtshilfe verbessern und Hilfe zur Selbsthilfe geben.
Seit über 20 Jahren bin ich als Chefärztin der Frauenklinik eines grossen Kantonsspitals tätig. Die Arbeit mit den Patientinnen und dem Team bereitet mir Freude, erfordert aber die Bereitschaft, ein hohes Tempo zu leben. Mein Berufsalltag ist mit einem olympischen Fünfkampf zu vergleichen. Neue Therapien, Qualitätssicherheit, Patientenzufriedenheit, Forderungen von Seiten der Politik und nicht zuletzt der Kampf in Tariffragen müssen stets im Auge behalten werden.
Und nun als Kontrast dazu mein Einsatz im Hilfs- und Ausbildungsprojekt Mudiro in Namibia – ein Land, das 20mal grösser als die Schweiz ist, aber nur ein Viertel der Einwohnerzahl hat, ein Land mit einem sehr hohen Gini-Koeffizienten, d.h. mit einer enormen Schere zwischen Arm und Reich, ein Land mit extremen klimatischen Bedingungen… Mudiro ist im Norden Namibias, im Kavango-Gebiet, tätig. Es ist nicht ein Hilfswerk im klassischen Sinn, vielmehr liegt der Hauptfokus in der Ausbildung. Das Medizinstudium in Namibia ist marginal, eine Spezialarztausbildung existiert nicht. Hier findet Mudiro seinen Platz. Seit 2014 waren 100 Ärztinnen und Ärzte jeweils während einiger Wochen als Ausbildner im Einsatz. Das medizinische Ausbildungsprojekt arbeitet eng mit dem Gesundheitsministerium, den lokalen Krankenhäusern, Gesundheitseinrichtungen und der medizinischen Universität Namibia zusammen. Die Arbeit der Mudiro-Ärzte wird von der Regierung sehr geschätzt, und mit der UNAM (Uni Namibia) existieren Ausbildungsverträge.
2019
Im September 2019 war ich das erste Mal vor Ort und habe die Spitäler Andara, Nyangana und Rundu kennengelernt, wo ich von wissbegierigen Ärzten, Hebammen und Pflegenden empfangen wurde. Verwöhnt mit sämtlichen technischen Möglichkeiten der modernen Medizin sah ich mich mit „Afrika pur“ konfrontiert. Fehlende oder defekte Geräte, ein minimaler Medikamentenstock, eine grosse Anzahl von kranken Menschen… Ich war gezwungen, mich dieser Welt anzupassen. Ich musste lernen, kleinere Schritte zu machen.
Geburtshilfe
Da vor mir bereits Gynäkologen aus der Schweiz die Ausbildung in Schwangerschaftsultraschall begonnen hatten, lag einer meiner Schwerpunkte in der Weiterführung dieses Themas respektive in der Kontrolle von bereits Gelerntem. Mit grosser Freude konnte ich feststellen, dass zahlreiche Ärzte und Hebammen schon über ein gutes Know-how verfügen. So können benötigte Kaiserschnitte bereits vor der Geburt erkannt und die Patientinnen in ein Spital mit der nötigen Infrastruktur verlegt werden.
Gynäkologie
In der Gynäkologie besteht Ausbildungsbedarf – sowohl theoretisch wie auch „operationstechnisch“. In der kurzen Zeit meiner Anwesenheit war es mir ein Anliegen, den Ärzten die Curettage (Ausschabung der Gebärmutter, z.B. bei zu starken Menstruationsblutungen) zu vermitteln. Mittlerweile habe ich erfahren, dass sie diese Operation nun problemlos durchführen. Die Lebensqualität der behandelten Frauen hat sich enorm verbessert. Bedenken wir, dass Hygieneartikel häufig fehlen.
2020
Dann kam 2020 und damit Covid-19. Für 26 Ärzte war ein Einsatz geplant, aber die Pandemie hatte vieles verändert. Teaching war nicht vorrangig. Oft ging es um das reine Überleben. Nicht unbedingt wegen Corona, sondern wegen der konsekutiven Hungersnot. Denn mit dem Wegbleiben der Touristen blieben auch die Einkünfte aus. Hier hat Mudiro sofort gehandelt und geholfen, Essensrationen zu verteilen. Aber auch Wasserleitungen wurden gebaut, defekte Brunnen repariert und sogar ein neuer Kindergarten erstellt.
2021
Seit Mai 2021 sind nun wieder Schweizer Mudiro-Ärzte in Namibia tätig. Ende August durfte ich – zusammen mit einem Gastroenterologen (Dr. François Meyer) und einem Internisten (Dr. Paul Mülhauser) – ins Land einreisen. Zwei weitere Ärzte, eine Kinderkrankenschwester und eine Physiotherapeutin waren bereits vor Ort.
Grootfontein
Diesmal hat sich mein Einsatz verändert. Eine Gruppe von Ärzten, die im Mai bereits von Dr. Eduard Neuenschwander in Schwangerschaftsultraschall an ihren jeweiligen Spitälern geschult wurden, haben sich am Spital Grootfontain eingefunden. Wir konnten klar definierte Kurse abhalten. Am Morgen Theorie und anschliessend, bis in den Nachmittag, praktische Übungen. Ich habe mich sehr gefreut zu sehen, wie sicher diese Ärzte Schwangerschaftsultraschalluntersuchungen durchführten.
Das zweite Hauptthema, den gynäkologischen Ultraschall, konnten wir anhand von Notfallpatientinnen in Angriff nehmen. Dadurch, dass der gynäkologische Ultraschall durch die Scheide erfolgt, gehört er in den katholischen Spitälern zu den Stiefkindern. Es brauchte viel Überzeugungsarbeit von meiner Seite… Nachdem wir aber innerhalb von sieben Tagen vier geplatzte Eileiterschwangerschaften durch den vaginalen Ultraschall diagnostizieren konnten, waren alle Teilnehmer überzeugt. Nummer 4 haben die ortsansässigen Ärzte selber diagnostiziert und mich ganz glücklich darüber informiert!
Kleine Anmerkung: Aus Sicht [CFM1] der Aerzte die sich noch nicht mit dem gynäkologischen Ultraschall beschäftigt haben, habe ich die Eileiterschwangerschaft nach Grootfontain gebracht. Aus meiner Sicht fehlte bis anhin die Diagnostik, und die Frauen sind zu Hause in ihrer Lehmhütte daran verblutet… Die Zahlen sprechen für sich: In sieben Tagen vier jungen Frauen das Leben gerettet.
Outreach-Klinik Biro
„Morgen bringe ich Dich in die Outreach-Klinik in Biro und hole Dich dann wieder ab.“ So wurde ich von Barbara Müller am Donnerstag meiner zweiten Arbeitswoche begrüsst. „Aha“, dachte ich mir, „also bringen und wieder abholen, heisst dazwischen alleine an einem Ort, der auf der Karte als kleinster Punkt eingezeichnet ist (wenn überhaupt).“ Das mutete doch eher „strange“ an… Gesagt, getan. Frühmorgens sind wir losgefahren. Über Strassen, die kaum als Strassen erkennbar waren, vorbei an Büschen und Sträuchern und einzelnen Lehmhütten. Mein schlechter Orientierungssinn wurde arg strapaziert.
Der erste Eindruck bestand aus einzelnen Blech- und Lehmhäusern, zahlreichen Patientinnen und acht Healthworkern und -workerinnen, die mich erwarteten. Sieben Frauen und ein Mann, eine geballte Ladung an Energie, Freude und Interesse an meinem Wissen. Schnell war mein Bangen verschwunden. Ich war mittendrin. Alles wollten sie wissen: angefangen bei der Schwangerschaftsbetreuung über Geburten und insbesondere Risikogeburten bis hin zu Verhütung, Zyklusunregelmässigkeiten und Problemen der Menopause. Die Zeit ist im Nu verflogen, und ich wurde wieder abgeholt. Die WhatsApp-Nachricht vom folgenden Morgen hat mich sehr gerührt: „We can’t stop talking about you, doctor. We miss you already.“
Missionsklinik Andara
Die dritte Woche wohnten wir in Andara im Mudiro-eigenen Containerdorf und arbeiteten in der Missionsklinik. Ans Leben im Container habe ich mich schnell gewöhnt. Eine echte Herausforderung boten allerdings die enormen Temperaturschwankungen von minus 3 Grad nachts bis plus 36 Grad tagsüber.
Während sich mein Kollege Paul Mülhauser erneut dem Schwerpunkt „abdominaler Ultraschall“ widmete, war mein Wissen in Andara v.a.in der Gebärabteilung gefragt. Innerhalb einer Woche habe ich zwei eklamptische Anfälle (schwerste Form der Schwangerschaftsvergiftung) angetroffen. Noch schwanger, schwer krampfend wurden die Frauen aus dem Umland ins Spital eingewiesen. Die Therapie der Wahl ist in diesen Fällen die Entbindung, um das Leben der Mutter zu retten. Dies zeigte sich bei einer der beiden Frauen, welche sich erst in der 24. Schwangerschaftswoche befand, als äusserst schwieriges Unterfangen. Der Konflikt, ein nicht lebensfähiges Kind zu entbinden, um das Leben der Mutter zu retten, ist auch in der Schweiz stets emotional und voller ethischer Fragen. Im sehr katholischen Kavango-Gebiet fanden die jungen, in dieser Thematik unerfahrenen Ärzte die Antwort in der Verlegung der Schwangeren nach Rundu. Dass die junge Mutter in dieser Situation die Autofahrt von 250km nicht überleben kann, ist leider klar.
Am nächsten Tag wurde eine 21-jährige Mutter ins Spital eingewiesen, drei Stunden nach der Entbindung. Unmittelbar nach der Geburt sei sie kollabiert und war anschliessend nicht mehr ansprechbar. Durch die erschwerten Transportbedingungen vergingen drei Stunden bis zum Spitaleintritt. Hier mussten wir die Verdachtsdiagnose einer Fruchtwasserembolie mit konsekutivem Hirntod stellen. Das Neugeborene in den Armen der Grossmutter am Bett der toten Mutter hat dem ganzen Team stark zugesetzt.
Es bleibt noch viel zu tun
Obwohl es viele motivierte Ärzte und Pflegende in Namibia gibt, schreit die medizinische Versorgung der Bevölkerung in den meisten Gebieten des Landes nach Verbesserung. Durch den Einsatz von Schweizer Ärzten über Mudiro konnte bereits einiges erreicht werden. Aber es bleibt noch viel zu tun!
Nächstes Projekt: Mudiro Academy
Bereits während unseres Aufenthalts ist uns Ärzten klar geworden, dass wir die Weiterbildung neu strukturieren müssen und wollen. Ziel ist es, einen Ort zu schaffen, in welchem wir theoretische und praktische Kurse anbieten können. Die interessierten Ärzte, Hebammen, Physiotherapeuten, Pflegenden, Healthworker und weitere Lernbegierige sollen die Möglichkeit erhalten, unabhängig von ihrer täglichen Arbeit an einem Kurs teilzunehmen. Die Kurse sollen intensiv und komprimiert stattfinden. Im Anschluss werden unsere Ausbildner zu den Teilnehmern in die betreffenden Spitäler und Outreach-Kliniken gehen, um in der Anwendung behilflich zu sein.
Aktuell laufen Verhandlungen zwischen der Universität von Namibia, der Regierung und Mudiro, um den Kursen die nötige Bedeutung für die Teilnehmenden zu garantieren[CFM2] .
Der Kick-off für die Mudiro Academy soll möglichst bald stattfinden. Ich bin überzeugt, dass wir damit einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung machen!
Unseren Sponsoren danken wir von Herzen für ihre Grosszügigkeit.
~ Franziska Maurer