Physiotherapie in Namibia: Überleben dank Mobilität

Im März 2021 brach ich nach Andara zu meinem zweiten Einsatz für Mudiro auf – pandemiebedingt 6 Monate später als ursprünglich vorgesehen. Meine Ziele waren es, einerseits durch die Arbeit am Patienten meinen Einblick in die Bedürfnisse an die Physiotherapie zu vertiefen. Zum anderen ging es darum, den mittlerweile examinierten Pfleger Selvester weiter in bestimmten physiotherapeutischen Schwerpunkten anzulernen. Er hatte bereits die letzten Male mit sehr viel Interesse in der Physiotherapie assistiert.

Da Air Namibia nun definitiv den Betrieb eingestellt hatte, mussten die knapp 1000 Kilometer von Windhoek nach Andara auf dem Landweg zurückgelegt werden. Ich hatte das Glück, dass Barbara Müller gerade von einer Reise durch Zambia und Botswana zurückkam und mich mit ihrem Landrover auf der zweitägigen Reise mitnehmen konnte.

Mein Einsatz war diesmal rein auf den Standort Andara konzentriert. Es war schön, wie herzlich ich von den Ärzten und dem Spitalteam begrüsst wurde – sie erinnerten sich noch gut an mich. Mir wurde diesmal ein grösseres Zimmer auf der Kinderabteilung als Therapieraum zugewiesen. Als Behandlungsliege diente mir wieder ein Spitalbett, als «Gehbarren» ein Bettgitter – immerhin. Alles Weitere musste improvisiert werden. 

Beim morgendlichen Ärzterapport erfuhr ich gleich am ersten Tag von einem jungen Mann, der seit ca. 6 Wochen nicht mehr laufen konnte. Wie so oft fehlte jede Diagnose. Ich bat die Ärzte darum, mich dem 28-jährigen jungen Mann annehmen zu dürfen.

Celestinus

Der schüchterne, traurig wirkende junge Mann wies eine unerklärliche schlaffe Lähmung des unteren Rumpfes und beider Beine auf. Ein Trauma hatte es offenbar nicht gegeben, eine Diagnose gab es nicht – am ehesten dachte ich an ein Guillain-Barré-Syndrom.

Ich begann mit dem zu arbeiten, was mir der junge Mann bot: restliche minimale Muskelaktivitäten im Rumpf und in beiden Beinen. Die gezielte Ansteuerung der Muskulatur erforderte Celestinus maximale Konzentration und liess ihn rasch ermüden. Ich arbeitete deshalb mehrmals täglich in kürzeren Sequenzen mit ihm und gab ihm Aufgaben, die er in meiner Abwesenheit machen sollte. Die Muskulatur sprach gut an und schon bald war Celestinus in der Lage, an meinem improvisierten «Barren» selbstständig ein paar Schritte zu generieren. Wir waren kurz davor, auf Stöcke wechseln zu können, Selvester war stets an meiner Seite.

In Andara gibt es mittlerweile ein funktionierendes Röntgengerät, nur leider war der einzige Mitarbeiter, der es bedienen kann, schon seit Wochen krank. Die Ärzte beschlossen daher, Celestinus ins 200 km entfernte Spital von Rundu bringen zu lassen, wo ausserdem eine diagnostische Lumbalpunktion gemacht werden sollte. Nur wer sollte das interpretieren? Neurologen gibt es dort keine.

Für mich bedeutete dies schweren Herzens, Celestinus aufgeben zu müssen. Das lange Osterwochenende stand vor der Tür und afrikanischen Mühlen mahlen langsam – und ich musste 1 Woche nach Ostern wieder auf die Rückreise Richtung Windhoek. Ich hoffe sehr, dass Celestinus sich auch so einigermassen erholen wird. Ohne Mobilität kann er seinen Lebensunterhalt als ungelernter Tagelöhner nicht aufrechterhalten. 

Ein Tag im Busch

Ich hatte viel zu tun. Neben den stationären Fällen behandelte ich ambulante Patienten, die mir von den Ärzten aus ihrer täglichen Sprechstunde zugewiesen wurden, und machte einige Hausbesuche. Ich sah entwicklungsverzögerte Kinder, alte Menschen nach Stürzen mit unbehandelten Schenkelhalsfrakturen, verletzte Schultern, geschwollene Kniegelenke, Sportverletzungen, Verbrennungen, viele neurologische Probleme. 

Zwischendurch unterrichtete ich Selvester weiterhin in den Themen, die er auch als fachfremder Helfer abdecken konnte. Ich zeigte ihm, wie man leichter vom Boden aufstehen kann, wie man korrekt an Stöcken läuft, was wichtig ist, damit sich ein Mensch nicht wund liegt etc. Auch während unserer Arbeit am Patienten erklärte ich ihm viele Zusammenhänge und Handgriffe. 

Ein Highlight für mich war es, einen Tag mit Barbara Müller und dem Team der P.H.C. (Primary Health Care) im Outreach verbringen zu dürfen, also die Lehmhütten im tiefsten Busch zu besuchen. Wir waren stundenlang unterwegs über Tiefsandwege von Hüttensiedlung zu Hüttensiedlung. 

In einer der Siedlungen besuchten wir einen älteren Mann, der seit ca. 3 Jahren nicht mehr laufen und sich nur sehr mühsam mithilfe von 2 alten Holzkrücken ein paar Meter über seinen Hof schleppen kann. Eine grobe Untersuchung offenbarte mir eine massive rechtsseitige spastische Lähmung, vermutlich verursacht durch einen Schlaganfall. Ich schlug vor, ihn nach Andara bringen zu lassen, um intensiv mit ihm arbeiten zu können. Er willigte dankbar ein und Barbara organisierte den Transport.

Kaveto

Ich arbeitete nun während 9 Tagen zweimal täglich 1 Stunde mit Kaveto. Die grösste Herausforderung bestand in den massiven Spastiken in der rechten Rumpfhälfte und im rechten Bein, die fast nicht zu durchbrechen waren und starke Schmerzen verursachten. Unsere Ziele waren es, die Schmerzsituation zu verbessern sowie das Gehen zu erleichtern. Gemeinsam kämpften, schwitzten und probierten wir. 

Je mehr Kaveto seine rechte Körperhälfte zu benutzen lernte, umso mehr liessen die Spastiken nach und entsprechend entspannte sich seine Schmerzsituation. Bald schon verbesserte sich sein Gleichgewicht und er konnte erste Schritte an meinem «Barren» machen. Barbara half mir, neue Achselstöcke für ihn zu organisieren und wir kauften einen stabilen Stuhl für sein Zuhause.

Bei meiner Arbeit fiel mir auf, wie schlecht Kaveto sowohl im Nahbereich als auch in der Ferne sehen konnte. Wir organisierten deshalb den Transport nach Shadikongoro, wo ein Augenspezialist ihn anschauen konnte. Kaveto erhielt eine Brille und war sehr dankbar dafür. 

Die zwei Wochen intensive Arbeit haben sich gelohnt: Wir konnten Kaveto mit weniger Schmerzen und deutlich verbessertem Gehvermögen an 2 Achselstöcken aus dem Spital Andara nach Hause entlassen.

Fazit

Gegen Ende meines Einsatzes ergänzte ich die bereits beim letzten Mal definierten wichtigsten physiotherapeutischen Schwerpunkte, für die auch fachfremde einheimische Helfer angelernt werden können. Ich verfasste neue Informationsblätter und ergänzte den Ordner, den ich bereits 2019 für Andara angelegt hatte. Selvester wurde in allen Themen geschult und angelernt und bleibt mit grossem Interesse am Fachgebiet der Physiotherapie und viel Engagement dabei. Er kann nun selbstständig bestimmte Aufgaben übernehmen und Barbara in den Busch begleiten.

Durch den regelmässigen Einsatz von Physiotherapeuten aus der Schweiz und Deutschland möchten wir dies auch weiterhin festigen und ausbauen. In Andara soll bald ein Gehbarren gebaut werden, was eine deutliche Erleichterung für die Arbeit mit oftmals stark gehbehinderten Menschen darstellen wird. 

Es zeigte sich einmal mehr, wie wichtig und lebensnotwendig die Mobilität für die Menschen in Namibia ist. Physiotherapie ermöglicht den Einheimischen, die so lebensnotwendigen funktionellen Fähigkeiten zu entwickeln bzw. wiederzuerlangen – eine entscheidende Voraussetzung, um unter oftmals schwierigen Bedingungen (über-) leben zu können.

Gabi Jakob, im April 2021
– Physiotherapie Mudiro –