Erfahrungsbericht Veronica Füglister

Fast 2 Monate im Kavango liegen vor mir, als ich mich anfangs April zum ersten Mal ins Abenteuer Mudiro stürze. Nichts zu erwarten, aber auf alles gefasst zu sein, habe ich mir vor der Abreise vorgenommen… wer weiss, was die Zeit in Namibia bereithalten würde? 

In den kommenden Wochen werde ich in den Spitälern Andara und Nyangana als Pädiaterin das Team vor Ort begleiten und zusätzlich Fahrten in abgelegene Dörfer unternehmen. Dank der herzlichen Mudiro-Crew, welche mir mit Rat und Tat zur Seite steht, für gutes Essen und gemütliche Abende sorgt, wird das Containerhaus in Andara rasch zum zweiten Zuhause. 

Die ersten Tage im Spital von Andara sind eindrücklich auf vielen Ebenen. Die hohe Zahl an mangelernährten Kindern ist erschreckend und viele Patienten sind schwer krank. Ich lerne ein Ärzte- und Pflegeteam kennen, das unter oft schwierigen Bedingungen ein unglaublich breites Spektrum abdeckt, sich dabei gegenseitig unterstützt, voneinander lernt und so die wichtige Gesundheitsversorgung für die Menschen in der Region aufrechterhält. Die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten sind zwar begrenzt; die Ärzte nutzen die vorhandenen Ressourcen aber geschickt, so dass dennoch vieles möglich ist. Von ihrer Fähigkeit, Lösungen zu finden und pragmatisch zu handeln, können wir Schweizer-Ärzte lernen! 

Ein Kind behutsam und gründlich zu untersuchen bis die genaue Ursache eines Symptoms gefunden wurde, ist jedoch nicht üblich. Nach einer kurzen, pragmatischen Untersuchung wird meist eine breite, aber ungezielte medikamentöse Behandlung etabliert, um viele Eventualitäten abzudecken. Auf Visite geht man zügig von Bett zu Bett, wobei Ärzte und Pflegerinnen hauptsächlich anhand der Akten den Verlauf besprechen; Patientenkontakt hat wenig Raum. Ich begleite die Visite und frage ich mich, wie viele der Mütter, die hier dicht nebeneinander mit ihren Babys auf den Betten sitzen und kaum ein Wort Englisch sprechen, verstehen, was ihr Kind hat oder weshalb eine schmerzhafte Untersuchung nötig ist… Vor meinem inneren Auge spielen sich Szenen aus meinem Alltag ab; Szenen mit kritisch hinterfragenden Eltern, welche die Informationen von Google, einem eigens gekauften Fachbuch und zwei anderen Ärzten zusammengetragen haben und noch eine dritte Meinung hören möchten. Wo wäre wohl die goldene Mitte zwischen diesen so unterschiedlichen Welten? 

Die liebevolle, aber genaue klinische Beurteilung der Kleinen zu fördern und die Kommunikation mit den Müttern zu unterstützen ist mir ein grosses Anliegen. 

Zu meiner Zeit in Andara gehört auch die Geschichte eines 5 Monate alten Mädchens, welches mit hohem Fieber, schwerem globalem Entwicklungsrückstand und epileptischen Anfällen seit vielen Wochen hospitalisiert ist. Es liegt den ganzen Tag schläfrig auf dem Bett und wimmert leise.  Mein anfänglicher Drang, Untersuchungsresultate zusammenzutragen, um die Ursachen für die Krampfanfälle und das Fieber zu finden, stösst auf wenig Resonanz: Dem klinischen Untersuch des Kindes wird wenig Bedeutung beigemessen. Ein CT und eine Lumbalpunktion seien in Rundu erfolgt, die Resultate jedoch nicht mehr auffindbar und auch der Mutter nicht bekannt. Diese lehne weitere Diagnostik ab und wolle das Spital verlassen, weshalb das Kind nun eine antibiotische Therapie bei unklarem Fieber erhalte und dann austreten solle. Ich hadere damit, ein Kind mit komplexer Geschichte so schnell aufzugeben…

Im Verlauf hinterfrage ich mich jedoch: Was dient dem Wohl des Kindes in dieser Konstellation? Ist die genaue Diagnose in diesem Kontext tatsächlich so relevant? Die Mutter wird mit dem Baby in ein abgelegenes Dorf zurückkehren, wo kaum medizinische Versorgung, geschweige denn ein therapeutisches Angebot besteht. Ich wünsche dem Mädchen, dass wir die Krampfanfälle kontrollieren können, es schmerzfrei ist und es von der Familie zuhause so gut es geht umsorgt wird.

Palliative-Care im Kavango. So entsteht im Austausch mit dem Ärzteteam von Andara ein Behandlungsplan: Dank einer gründlichen Untersuchung finden wir die Ursache für das Fieber und können die Infektion gezielt behandeln. Unter engmaschiger neurologischer Beurteilung gelingt es, eine passende antiepileptische Medikation zu finden und das Pflegeteam, welches die Begebenheiten und Möglichkeiten im Dorf kennt, beginnt, die Mutter sorgfältig in der Pflege des Kindes zu schulen. So wird eine Entlassung nachhause realistisch. Beim Abschied bedankt sich diese Mutter, welche zuvor zweimal gegen ärztlichen Rat aus einem Spital ausgetreten ist, bei der Pflegerin für die Behandlung im Spital von Andara und verspricht, zu Kontrollen im Ambulatorium zu erscheinen. Wie schön! – trotz aller Tragik der Situation. Mit dem Wissen, Können und der Perspektive aus zwei Welten das Leben der Menschen im Kavango zu verbessern, das ist Mudiro! 

Leuchtend orange ist sie, die Mobile Clinic, das Schmuckstück von Mudiro:  Ein robuster Truck, der – von Herman umsichtig gesteuert – Sandpisten und Schlammlöcher bestens meistert und im Innern ein perfektes Behandlungszimmer bietet. Drei Touren durfte ich damit unternehmen, jeweils im Zweierteam mit Franziska Maurer (Gynäkologie), Claudia Diggelmann (Allgemeinmedizin) und Nadine Diwersi (Traumatologie, Allgemeinmedizin). Die Einsätze in den abgelegenen Dörfern machen unglaublich Spass, sind bereichernd, berührend, und lassen einen auch nachdenklich werden.

Die Clinic stösst jeweils auf grosses Interesse – mit jedem unserer Einsätze scheint die Traube von Menschen, die sich um uns herum versammeln, grösser zu werden. Kaum sind zwei Kinder behandelt, sind mindestens ebenso viele Neue dazugekommen… Eine Situation, die ich zwar aus den hiesigen Notfallstationen bestens kenne, aber dass die Wartenden geduldig unter einem Baum sitzen und miteinander plaudern, ist neu – welcome to Africa!

Meine schweizerische Angewohnheit, durch den weichen Sand von A nach B zu rennen um ein Medikament zu holen – schliesslich will man die Leute nicht warten lassen – bringt mir einige Lacher ein… Circa 30 Kinder behandle ich pro Tag; Atemwegsinfekte, Durchfallerkrankungen, Ausschläge und Augenprobleme sind dabei besonders häufig. Schwierig ist es, Schulkinder mit Zahnschmerzen und einem Mund voller schwarzer Zähne zu sehen und zu wissen, dass ein zeitnaher Zahnarztbesuch wenig realistisch ist und wohl einfach zur Extraktion dieser Zähne führen wird… Schwierig ist es auch sagen zu müssen, dass man für ein Kind keine Therapie zur Verfügung hat. Bedingt durch Frühgeburten und Komplikationen bei Hausgeburten weit weg von medizinischer Versorgung sehen wir schwer beeinträchtigte Kinder.

Ich merke aber, dass das, was wir mit Mudiro bieten können – der Mutter zuhören, das Kind untersuchen, Tipps zur Pflege zuhause abgeben und Untersuchungen im Spital organisieren – bereits mehr bedeutet als ich mir vorstellen kann, und auch dieser Teil von Mudiros Arbeit wertvoll ist. Die Dankbarkeit der Menschen für kleine Dinge und ihre Art, Gegebenheiten, die man nicht ändern kann, einfach anzunehmen, ist berührend und inspirierend. Pädiatrie im Busch bedeutet, immer wieder nach Wegen zu suchen, um mit den zur Verfügung stehenden Mitteln gute Medizin zu bieten. Die Herausforderung, mit etwas Improvisation Lösungen zu finden, macht Spass und gestaltet die Arbeit abwechslungsreich. Ist kein Anti-Pilz–Shampoo verfügbar ist das kein Problem: Mudiro kann eine Anti-Pilz -Salbe abgeben und die Mutter flicht der Tochter kurzerhand Zöpfchen, so dass man die Salbe trotzdem auf die Kopfhaut applizieren kann. Namibische Kreativität und Gelassenheit machen es möglich.

Während das Ärzteteam arbeitet, ist auch die übrige Mudiro-Crew fleissig: Hund Benny buddelt Löcher in den Sand, die unvorsichtigen Ärztinnen zum Verhängnis werden können, Barbara und Herman unterstützen organisatorisch, richten das Lager ein und sorgen für gemütliche Lagerfeuerstimmung mit leckerem Abendessen. Die Abende im Busch sind herrlich… !. Gibt es einen schöneren Feierabend als unter dem namibischen Sternenhimmel?

Zurück aus dem Busch steht eine Woche im Spital von Nyangana an:  Das dortige Ärzteteam brennt für Schulungen und ist ebenso motiviert, uns Europäerinnen Spannendes aus ihrem Alltag zu zeigen. Nach Bedsideteachings, wie beispielsweise bei der Versorgung von Frühgeborenen, wird aktiv gefragt, und meist ist nach kurzer Zeit ein ganzes Team mit Eifer bei der Sache und motiviert etwas zu lernen. Ebenso werde ich kurze Zeit später zu einem Hippo-Bite in den Notfall gerufen, wo ich von den Erfahrungen des lokalen Teams lernen darf. So wechseln sich Teaching und Lernen auch für mich ab. 

6 Wochen seien eine lange Zeit, dachte ich auf der Hinreise, doch die Zeit scheint zu fliegen… 

Der Abschied von meinen neuen Mudiro-Freunden, dem einfach, aber erfüllenden Leben im Kavango und meinem liebgewonnenen Arbeitsreich, der Mobile Clinic, fällt mir nicht leicht… fast würde ich behaupten, auch den Hahn mit der heiseren Stimme, der einen in Shaditunda pünktlich um 04:00h weckt, etwas zu vermissen. Was nehme ich mit von meinem ersten Einsatz? Neben Angobitter für einen Rock Shandy zuhause und meiner ersten namibischen Verkehrsbusse, die ich mir mit einem Rollstopp am Stoppschild eingehandelt hatte, sind es wertvolle Erinnerungen an viele herzliche Begegnungen, eine bereichernde Zusammenarbeit mit den Ärzten vor Ort und die wunderschöne Natur im Kavango. Danke, liebe Barbara, liebe Mudiro-Crew für euren grossen Einsatz – dank euch fühlt man sich wohl in Andara! Danke liebe Franziska, Claudia und Nadine, dass ihr das Abenteuer Mudiro mit mir geteilt, und eine unvergessliche Zeit mitgeprägt habt! Mudiro – das Feuer – ist ansteckend!  Dieses Feuer bringt Menschen, Kulturen und Wissen zusammen und dass daraus etwas unglaublich Wertvolles entsteht, davon bin ich überzeugt! So freue ich mich sehr, nun Teil dieses wunderbaren Projektes zu sein und hoffentlich auch in Zukunft zum Weiterbrennen des Feuers beitragen zu können.

~ Med. pract. Veronica Füglister, Assistenzärztin Pädiatrie