Erfahrungsbericht Joel Baumann

Erfahrungsbericht pract. med. Joel Baumann

Mein erster Arbeitstag im Andara Hospital begann mit einem erschütternden Erlebnis, das mir die Herausforderungen und die Begrenzungen der medizinischen Versorgung in Namibia eindrucksvoll vor Augen führte. Ein zehn Monate altes Baby wurde mit der Verdachtsdiagnose auf Mangelernährung ins Spital gebracht. Trotz intensiver Bemühungen und einer adäquaten Therapie verstarb das Kind in der darauffolgenden Nacht. Die Ursache blieb unklar, vermutlich ein septischer Schock. Weder diagnostische Mittel noch die finanziellen Ressourcen der Eltern ermöglichten eine genauere Abklärung. Eine Verlegung in das besser ausgestattete Spital Rundu scheiterte daran, dass das Baby den Transport nicht überlebt hätte und keine adäquate Weiterbetreuung während des Transports gewährleistet werden konnte.

Dieses Erlebnis war nicht nur emotional belastend, sondern zeigte mir auch, wie stark äußere Faktoren wie finanzielle Mittel und die Verfügbarkeit von Ressourcen den Krankheitsverlauf beeinflussen können. Es war ein schmerzhafter Start, der mich jedoch noch stärker motivierte, einen Beitrag zu leisten.

In den folgenden Tagen nutzte ich die Gelegenheit, das Krankenhaus, die Abläufe und das Personal besser kennenzulernen. Die Ärzte im Andara Hospital sind Generalisten, die ein beeindruckend breites Wissen besitzen. Sie decken ein großes Spektrum ab – von kleineren chirurgischen Eingriffen über Geburten und pädiatrische Notfälle bis hin zu gynäkologischen und geriatrischen Problemen. Die Vielseitigkeit der Arbeit war beeindruckend, zugleich aber auch herausfordernd, da spezialisierte Fachärzte nicht verfügbar sind, beziehungsweise ausschliesslich in Rundu (4h Autostunden entfernt) oder in Windhoek (10h Autostunden entfernt) praktizieren.

Ein entscheidender Bestandteil des Gesundheitssystems in Namibia sind die sogenannten „Clinics“, die von erfahrenen Krankenschwestern geführt werden. Diese übernehmen viele Aufgaben, die in der Schweiz von Hausärztinnen und Hausärzten erledigt werden. Sie entscheiden über die weitere Behandlung, geben Medikamente aus oder überweisen, falls nötig, Patienten in ein Spital. Dennoch stoßen auch diese Einrichtungen an ihre Grenzen: Medikamente fehlen häufig, sowohl in den Kliniken als auch in den Spitälern. Dies zwang uns oft, suboptimale Präparate zu verwenden oder ganze Therapiepläne, beispielsweise zur Blutdruckregulation, anzupassen. In verschiedenen Kliniken zwischen Rundu und Andara durfte ich Patienten behandeln oder meine Ideen bezüglich der Behandlung einbringen. Die Krankenschwestern waren dabei stets motiviert und zeigten sich interessiert. So gelang uns in jeder Klinik ein interessanter Austausch von medizinischem Wissen und in der Zeit zwischen den Patienten auch anderen Themenfeldern.

Eine weitere Herausforderung ist die geografische Lage der Spitäler. Viele Patienten leben so weit entfernt, dass sie keine Möglichkeit haben, das Krankenhaus regelmäßig aufzusuchen. Fehlende Transportmöglichkeiten führen dazu, dass Patienten den medizinischen Behandlungsweg abbrechen und sich von der Schulmedizin abwenden – oft mit fatalen Folgen.

Ein Beispiel dafür zeigte sich gegen Ende meines Einsatzes. In einer Klinik begegnete ich einem neunjährigen Jungen mit einer vermeintlichen Osteosarkom-Diagnose. Diese war jedoch auf einen Dokumentationsfehler zurückzuführen: Eine fehlerhafte Notiz in seinem „Health Passport“ wurde jahrelang ohne Überprüfung übernommen. Diese Pässe, die die gesamte Krankengeschichte eines Patienten enthalten, sind anfällig für Verlust, Beschädigung oder Unleserlichkeit. Im Fall des Jungen führte eine sorgfältige Nachforschung und das beeindruckende Netzwerk von Barbara dazu, dass wir die falsche Diagnose widerlegen und ihm eine Nachkontrolle im Spital Rundu inklusive Shuttle-Service ermöglichen konnten.

Mein Einsatz im Andara Hospital war eine wertvolle und lehrreiche Erfahrung. Neben der Behandlung von häufigen Erkrankungen wie Mangelernährung, Tuberkulose, Malaria, Lepra und sexuell übertragbaren Krankheiten konnte ich auch viel über die Herausforderungen und Grenzen des Gesundheitssystems in einem ressourcenarmen Land lernen. Trotz meiner noch begrenzten praktischen Erfahrung hatte ich die Möglichkeit, aktiv zu helfen und wertvolle Einblicke zu gewinnen.

Ich bin extrem dankbar für die Unterstützung durch Mudiro und hoffe, dass ich in Zukunft weitere Einsätze absolvieren kann. Ein herzliches Dankeschön geht an Barbara und Hermann für ihre herzliche Betreuung sowie an die Haustiere, die für ein bisschen Heimweh-Linderung sorgten.

Ein grosser Aufsteller war die Eröffnungszeremonie der Shamaturu Clinic. Es war unglaublich schön zu sehen, mit welcher Leichtigkeit und Fröhlichkeit die Menschen tanzten und sich an dem kleinen Schritt zu einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung freuen konnten.

Ich bin sehr dankbar, dass ich bereits jetzt, am Anfang meines beruflichen Werdegangs, durch Mudiro erste Erfahrungen sammeln konnte. Diese Einsätze bieten nicht nur eine wertvolle Möglichkeit, medizinisches Wissen in der Praxis anzuwenden, sondern sie eröffnen auch eine Perspektive, wie ich langfristig einen Beitrag leisten kann. Mein Ziel ist es, im Laufe meiner Karriere vermehrt solche Einsätze durchzuführen und die lokale Gesundheitsversorgung nachhaltig zu unterstützen – ganz im Sinne des Prinzips von Mudiro.

Um nachhaltige Hilfe leisten zu können, ist es essenziell, einen stabilen Grundstein zu legen. Ich denke, dies ist mir während meines Aufenthalts gelungen. Durch den Aufbau von Kontakten, das Kennenlernen der Menschen vor Ort und viele intensive Gespräche konnte ich ein besseres Verständnis für die Herausforderungen und Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung entwickeln. Diese Basis bildet für mich den Ausgangspunkt, auf dem ich in zukünftigen Einsätzen aufbauen kann.

„Das, was am Baum groß ist, ist im Wurzelwerk, was sich nährt von der Tiefe.“ (Also sprach Zarathustra, Friedrich Nietzsche)

pract. med. Joel Ramon Baumann